von Lasse Rebbin, zuerst erschienen in der spw – Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Es bleiben wohl wenige Tage in diesem Jahr 2022 so sehr in Erinnerung wie der 24. Februar. Der Tag, an dem Russland Raketen auf Kyiv, Mariupol, Charkiw, Schytomyr schoss und lange zusammengezogene russische Truppen anfingen, in die Ukraine einzumarschieren. Russland überfiel das Land – erneut.
Von einer „militärischen Spezialoperation“, die nicht lange dauern dürfte, war seitens Putins die Rede. Die Ukrainer*innen versuchten sich vor den einschlagenden Raketen zu retten, viele waren dazu gezwungen, aus dem Land zu fliehen und die Regierung unter Präsident Selenskyj tat alles dafür, um die eigene Bevölkerung zu schützen. Währenddessen blickte man in Berlin mit Überraschung und Entsetzen auf die Situation.
Der Tenor: Es ist wieder Krieg in Europa. Krieg zwischen zwei Staaten, einer davon übermächtig dem anderen gegenüber. Deutlich wurde, dass man sich verkalkuliert hatte. Vorausgegangen war die imperialistische Entscheidung des russischen Machthabers, die vermeintlich unabhängigen Gebiete Luhansk und Donezk in der Ostukraine als Staaten
anzuerkennen. Ein paar Tage später wurden sogenannte „Friedenstruppen“ in die Ostukraine geschickt.
Das Muster war bekannt: Putin schaffte sich selbst erneut eine real nicht vorhandene Bedrohungslage, um dann militärisch eingreifen zu können. Schuld daran waren natürlich die NATO und der Westen. Das glaubte bis auf die AfD und einige stehen gebliebene Linke zu dem Zeitpunkt schon niemand mehr. Die ersten Sanktionen waren bereits beschlossen. Was klar wurde: Alle diplomatischen Initiativen in den Wochen davor waren offensichtlich gescheitert. Putins ausgeprägter Imperialismus (den man schon zuvor in seinen Pamphleten nachlesen konnte) war noch stärker als bereits 2014 zutage getreten. Als er dann am 24. Februar ankündigte, die Ukraine „entmilitarisieren“ und „entnazifizieren“ zu wollen, lag das Russland-Bild vieler Politiker*innen, Kommentator*innen und Beobachter*innen wortwörtlich in Schutt und Asche.
Fehler mussten eingestanden und korrigiert werden. Von Nordstream 2 wollte niemand mehr so richtig was wissen, außer der Union. Diese versuchte wenig überraschend Sozialdemokrat*innen die Schuld daran in die Schuhe zu schieben und ließ dabei vollkommen außer Acht, dass sie unter Federführung von Angela Merkel die letzten 16 Jahre die Russland-Politik der Bundesrepublik bestimmten. Frei nach dem Motto: Was sind schon Details, es herrscht ja Krieg. Immer größer werdende Demonstrationen in vielen Städten forderten lautstark mehr Sanktionen gegen Russland und Waffenlieferungen für die Ukraine. Viele solidarisierten sich mit den Ukrainer*innen und wollten dem angegriffenen Land helfen.
Die politischen Reaktionen auf den russischen Angriffskrieg fielen dabei vielschichtig aus. Diplomatische Vermittlungsversuche, europäisch abgestimmte Sanktionen und auch die Lieferungen von Waffen wurden zur Realität in der Politik gegenüber Russland. Unter dem Begriff Zeitenwende subsumierte Bundeskanzler Olaf Scholz in einer eilig anberaumten Sondersitzung des Deutschen Bundestags am 27. Februar all diese und weitere Maßnahmen. Damit überraschte er nicht nur die Opposition, sondern auch seine eigene Koalition, die Zivilgesellschaft sowie die internationale Öffentlichkeit. Das Wort „Zeitenwende“ prägte sich ein.
Als ich dieses Jahr auf einer Delegationsreise in den USA war, kannten Politiker*innen, Journalist*innen und Beamt*innen das Wort. Aber was bedeutet Zeitenwende nun eigentlich? Mit ein paar Monaten Abstand kann man wohl konstatieren, dass der Begriff nur noch wenig diskutiert wird. Bis auf in Fachkreisen und der politischen Bubble bleibt Zeitenwende für viele die Rede von Olaf Scholz im Februar – und eng mit der Ukraine verknüpft.
Das wird der Sache meiner Meinung nach nicht gerecht. Denn eine Zeitenwende in der Außen-, Sicherheits-, Friedens- und Entwicklungspolitik ist mehr als das. Sie erfordert klare Visionen und Vorstellungen davon, wie wir internationale Politik gestalten wollen. Als Jusos haben wir uns in diesem Jahr deshalb mit unserem eigenen Zeitenwende-Prozess auf dem Weg gemacht, genau eine solche Vorstellung zu entwickeln. Gemeinsam mit unseren europäischen und internationalen Partner*innen, den Landesverbänden und Bezirken sowie Expert*innen haben wir intensiv diskutiert und gerungen.
Das Ergebnis haben wir auf unserem diesjährigen Bundeskongress unter dem Motto „Solidarisch. Komme was wolle.“ beschlossen. Wir wollen eine „Zeitenwende – aber richtig!“ und damit auch den Zeitenwende-Prozess der SPD kritisch-solidarisch begleiten. Aber was bedeutet das?
Eine Zeitenwende erfordert einen neuen Sicherheitsbegriff. Ohne diesen fehlt es an Orientierung und Grundlagen, aus denen sich internationales politisches Handeln formen kann. Einen, der weg von einer rein militärischen und patriarchalen Betrachtung von Sicherheit ausgeht, stattdessen eine umfassende Analyse der Herrschaftsstrukturen vorlegt und die Befreiung aus diesen entgegensetzt.
Dabei sind unsere Grundwerte Dreh- und Angelpunkt für einen jungsozialistischen Sicherheitsbegriff. Unser Sicherheitsbegriff ist antikapitalistisch. Viel zu oft ist Außen- und Sicherheitspolitik an kapitalistischen Profitinteressen zum Leid anderer Staaten, insbesondere im globalen Süden ausgerichtet. Unser Sicherheitsbegriff ist feministisch. Es besteht die dringende Notwendigkeit, patriarchale Machtstrukturen, die zur Unterdrückung von FINTA, BIPOCs, queeren Menschen und Geflüchteten dienen, zu hinterfragen. Diesen Machtstrukturen müssen wir ein Verständnis von internationaler Politik entgegensetzen, das marginalisierte Gruppen miteinbezieht und die Zivilgesellschaft in den Mittelpunkt stellt. Unser Sicherheitsbegriff ist internationalistisch.
Wir müssen ein klares Bekenntnis zur multilateralen Zusammenarbeit abgeben, aber auch gleichzeitig den bisherigen Euro- und Westzentrismus kritisieren. Unser Sicherheitsbegriff ist antifaschistisch, da sich weltweit Faschist*innen und Antidemokrat*innen vernetzen und durch autoritäre
Regime gestützt werden. Gesellschaften müssen gegen diese menschenverachtenden Ideologien resilient sein und ihnen den Kampf ansagen! Unser Sicherheitsbegriff ist antirassistisch, weil die globale Ressourcen- und Machtverteilung immer noch auf rassistischen Strukturen basiert. Diese gilt es gerade in der sogenannten Entwicklungszusammenarbeit zu überwinden. Und unser Sicherheitsbegriff bleibt natürlich antimilitaristisch mit dem Ziel einer Welt ohne Krieg und Waffen. Wir opfern dieses Ziel aber nicht einem blinden Pazifismus, der in seiner momentan auftretenden Naivität und Überheblichkeit den Angegriffenen das Recht auf Verteidigung nimmt. Zeitenwende bedeutete mehr als nur den russischen Angriffs- und Vernichtungskrieg gegen die Ukraine zu betrachten.
Diesen Umstand aber komplett aus der Analyse auszublenden ist keine Option. Sind wir jemals in unserer antimilitaristischen Tradition unkritisch und leichtfertig mit Waffen, Waffenlieferungen und Waffenexporten umgegangen? Trotzdem lässt der imperialistische Angriff auf die Ukraine nur eine Schlussfolgerung zu, wenn wir das Selbstbestimmungsrecht des Landes und ihrer Menschen ernst nehmen: Arm Ukraine – bewaffnet die Ukraine!
Stark vereinfacht dargestellt ist das unser umfassender, jungsozialistischer Sicherheitsbegriff. Damit geben wir uns ein mit Werten unterbautes Grundgerüst, aus dem Implikationen für internationale Politik folgen. Drei diskussionswürdige Implikationen seien hier kurz angesprochen.
Erstens: Ein 100 Milliarden-Sondervermögen wird weder dem Reformbedarf der Bundeswehr-Strukturen gerecht noch dem Investitionsbedarf, den eine echte Zeitenwende benötigt. Ein rein auf militärisches Equipment ausgerichtetes Sondervermögen zog eine auf militärische Zwecke beschränkte Änderung des Grundgesetzes mit sich. Dabei müssen Investitionen viel breiter gedacht werden. Eine effektive Sicherheitspolitik benötigt eine resiliente Gesellschaft, die wir mit Investitionen schaffen: Investitionen in Bildung, Gesundheitswesen, Umwelt- und Klimaschutz sowie öffentliche Infrastruktur. Was dem im Wege steht? Das zwanghafte Festhalten am Instrument der Schuldenbremse. Zurecht lässt sich hier fragen, inwiefern die FDP – die sich offensichtlich als große Verteidigerin der Freiheit, sich als Politik wirtschaftspolitisch einzuschränken sieht – im Sinne der Zeitenwende anfängt, ihre Politik zu hinterfragen. Bisher war davon wenig zu sehen. Für die Bundeswehr mag das Sondervermögen die Möglichkeit bedeuten, endlich die Munitionslager aufzufüllen, aber auch das reicht lange nicht. Die Bundeswehr braucht eine umfassende Strukturreform. Das umfasst unter anderem eine bessere Ausrüstung, effektive Bekämpfung von rechtsextremistischen Tendenzen und allem voran eine Neuaufstellung des maroden Beschaffungswesens. Dabei sollte auch die momentan enge europäische Zusammenarbeit genutzt werden, um endlich den Weg hin zu
einer Europäischen Parlamentsarmee zu gehen. Zwar erfordert das alles eine enorme Kraftanstrengung, aber wann wäre die Zeit besser als jetzt, um sich auf den Weg zu machen? Für finanzielle Abhilfe kann dann auch die Rüstungsindustrie, die gerade massive Gewinne macht, sorgen. Gerade hier wäre eine Übergewinnsteuer mehr als angebracht. Ach ja, und über eine Verstaatlichung sollten wir auch dringend noch mal reden!
Zweitens: Eine Zeitenwende erfordert eine werte- und regelbasierte Handelspolitik. Denn Handelspolitik ist kein Automatismus für Frieden oder Gerechtigkeit. Das haben uns die vergangenen Jahre im Umgang mit Russland nun auch gezeigt. Nur wenn die Bedingungen stimmen, kann Handelspolitik einen echten Beitrag dazu leisten. Wirtschaftliche Abhängigkeiten von Diktaturen und Autokratien müssen der Vergangenheit angehören. Dafür brauchen wir eine politische Kategorisierung unserer Handelsbeziehungen, anstatt diese rein auf Profitmaximierung auszurichten. Kategorien sind hier unter anderem Gleichstellung, Menschenrechte, Arbeitnehmer*innenrechte und Klimaschutz. Die reine Fokussierung von Freihandels- und Investitionsabkommen soll durch regelbasierten Handel ersetzt werden, der durch demokratische Instruktionen durchgesetzt wird. Eine Möglichkeit dazu stellen echte Lieferkettengesetze da. Internationale Organisationen wie die Welthandelsorganisation oder auch die Weltbank gehören umfassend reformiert, damit die Dominanz des globalen Nordens nicht weiter zu Lasten des globalen Südens ausgelebt werden kann. Insbesondere die EU, aber auch die Bundesrepublik müssen dafür ihre Handelspolitik neu ausrichten. Wohin das bisherige, rein auf Profitmaximierung ausgerichtete Credo des „Wandels durch Handel“ uns geführt hat, können im Moment alle auf ihren Gasrechnungen nachlesen.
Drittens: Sicherheit schaffen wir nur mit globaler Zusammenarbeit auf Augenhöhe! Die sogenannte Entwicklungszusammenarbeit gehört ins Zentrum jeder Sicherheitspolitik. Dafür müssen die notwendigen Mittel bereitgestellt werden. In der konkreten Ausgestaltung müssen die Bedürfnisse der Länder des globalen Südens endlich ernst genommen werden. Gerade Chinas Projekt der neuen Seidenstraße, welches überall auf der Welt dankbare Abnehmer*innen gefunden hat, zeigt die Verfehlungen einer eurozentristischen Entwicklungszusammenarbeit schonungslos auf. Hier braucht es ein echtes Gegenangebot auf Augenhöhe, ohne die Länder des globalen Südens dabei zu verschulden oder auszubeuten. Und auch für Abrüstungspolitik ist eine gute Entwicklungszusammenarbeit kaum wegzudenken. Nur multilateral können eingeschlafene Abrüstungsverhandlungen und Rüstungskontrolle wiederbelebt werden!
Zeitenwende bedeutet ein Umdenken in so vielen Bereichen. Gewiss sind mehr als drei Implikationen, die ich in diesem Artikel kurz ausführen konnte, notwendig, um eine echte Zeitenwende zu vollziehen. Wie notwendig sie allerdings ist, zeigen uns die aktuellen internationalen politischen Herausforderungen schonungslos auf. Als Jusos haben wir dafür einen Aufschlag geliefert, den es jetzt laut zu diskutieren gilt. Allen voran mit unserer Mutterpartei.