von Matti Rappenhöner, stellv. Bezirksvorsitzender der Jusos Nord-Niedersachsen und Vorsitzender der Jusos im Kreis Verden
Wenn es um unsere Demokratie geht und um die Frage, wie die Menschen gewählt werden, die diese repräsentieren, dann ist das ganz sicher auch für junge Menschen und uns als Jusos ein enorm wichtiges Thema. Wem es am Herzen liegt, dass diese Repräsentant*innen fair und für alle verständlich gewählt werden, dem sollte es auch am Herzen liegen, sich mit der aktuellen Debatte um die Reform des Wahlrechts zur Bundestagswahl auseinanderzusetzen. Denn hier geht es ums Eingemachte.
Aber worum geht es hier genau und warum ist das so wichtig? Zunächst einmal: Deutschland hat aktuell nach China das zweitgrößte Parlament der Welt. Dass hierfür Lösungen gesucht werden, um den Bundestag zu verkleinern, ist erst einmal verständlich und erscheint auf den ersten Blick auch demokratiefördernd. Die Frage ist jedoch, um welchen Preis dies geschieht und welche anderen Probleme aus sogenannten „Lösungen“ entstehen können.
Wichtig ist erst einmal zu wissen, was der Unterschied zwischen der Erst- und der Zweitstimme ist, die jede*r von uns bei der Bundestagswahl vergibt: Mit der Erststimme wird der oder die Direktabgeordnete aus dem jeweiligen Wahlkreis gewählt, die Person mit den meisten Stimmen gewinnt den Wahlkreis und wird Abgeordnete*r. Mit der Zweitstimme wird die Landesliste einer Partei gewählt. Je nachdem, wie viele Stimmen diese Partei bekommt, hat sie Anspruch auf Sitze im Bundestag. Bekommt eine Partei 20%, hat sie Anspruch auf (ungefähr) 20% der Sitze.
Spannend wird es nun, wenn eine Partei mehr Direktmandate gewinnt, als ihr laut der Zweitstimme an Sitzen zustehen. Also wenn zum Beispiel die SPD 20% der Zweitstimmen holt und damit Anspruch auf 100 Sitze hätte, jedoch 105 Wahlkreise direkt gewinnt. Dann bekommt die SPD 5 Überhangmandate, damit alle Personen, die ihren Wahlkreis direkt gewinnen, trotzdem in den Bundestag einziehen können. Damit die Mehrheitsverhältnisse erhalten bleiben, erhalten die anderen Parteien ebenfalls 5 weitere Mandate, sogenannte „Ausgleichsmandate“. Diese Regelung garantiert also allen Wahlkreisgewinnern ein Bundestagsmandat. Ein großer Vorteil unseres Wahlrechts, da so ausnahmslos jede Region in Berlin vertreten ist, auch aus dem ländlichen Raum. Die Menschen haben einen Ansprechpartner vor Ort und einen Abgeordneten, der sich für ihre Interessen stark machen kann. Das stärkt Vertrauen in die Demokratie und macht sie viel nahbarer.
Die Größe des Bundestages entsteht also nicht, weil unser Wahlrecht schlecht und so dringend reformbedürftig ist. Es ist schlicht die Folge aus einer politischen Entwicklung, nach der die großen Parteien SPD und CDU/CSU deutlich weniger Zweitstimmen holen, jedoch fast gleichbleibend viele Erststimmen holen und damit Wahlkreise direkt gewinnen. Zum Vergleich: Bei der Bundestagwahl 1972 holten SPD (46%) und CDU/CSU (45%) zusammen über 90% der Zweitstimmen und damit Sitze im Bundestag. Gleichzeitig holten sie auch 95% der Erststimmen und gewannen alle Wahlkreise direkt. Da die Anzahl der Erst- und Zweitstimmen nahezu gleich hoch war, entstanden keine Überhang- und Ausgleichsmandate. In den letzten Jahren hat sich dies jedoch geändert. Während SPD und CDU/CSU immer noch fast alle Wahlkreise direkt gewinnen, holen sie längst nicht mehr so viele Zweitstimmen: Bei der Bundestagswahl 2021 zusammen waren es z.B. nur noch 50%.
Es gab deshalb zahlreiche Überhang- und Ausgleichsmandate und das ist keine Schwäche, sondern eine Stärke unseres Wahlrechts! Denn dadurch wird gleichzeitig dafür gesorgt, dass alle Regionen in Berlin durch einen Abgeordneten vertreten sind und trotzdem der Anteil an Sitzen gleichbleibt. Wer 20% an Zweitstimmen holt, hat weiterhin ungefähr 20% der Sitze inne. Das deutsche Bundestagswahlrecht wird deshalb auch international so geschätzt, weil es die Vorteile von Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht vereint und die Schwächen der beiden jeweils ausradiert. Wir sollten also unbedingt an unserem Wahlrecht festhalten!
Gerade für uns im ländlichen Raum mit den flächenmäßig größten Wahlkreisen ist es wichtig, dass wir einen Abgeordneten haben, der sich in Berlin für uns einsetzt und einen Ansprechpartner vor Ort haben- viele unterschätzen dabei die Wichtigkeit, die ein Abgeordneter dabei hat und den Einfluss auf lokale Entscheidungen- natürlich nur, wenn er sein Amt vernünftig ausübt und ordentliche Wahlkreisarbeit macht. Wir dürfen dem Bundestag, dem Herzen der Demokratie, nicht noch mehr an politischer Substanz berauben und seine Stellung gegenüber der Bundesregierung verschlechtern. Eine starke Legislative braucht starke Direktabgeordnete vor Ort.
Der Vorschlag der Ampelfraktionen, alle Überhang- und Ausgleichsmandate künftig zu streichen, ist deshalb kein guter. Dieser würde nämlich dafür sorgen, dass, wenn Parteien mehr Direktmandate holen, als ihnen nach Zweitstimmen zustehen, zahlreiche Wahlkreise einfach ohne (Direkt-)Abgeordneten dastehen würden. Das wäre fatal für das demokratische Verständnis in den betroffenen Regionen. Es darf nicht sein, dass einzelne Regionen aufgrund eines fehlenden Abgeordneten z.B. weniger Fördergelder erhalten oder leer ausgehen bei wichtigen Entscheidungen, die sie explizit betreffen. Wer sich dann noch wundert, warum das Vertrauen in unserer Demokratie vielerorts sinkt, hat die Ernsthaftigkeit dieses Themas nicht verstanden.
Bei der Debatte um das Bundestagwahlrecht geht es also um viel mehr, als um rein technische Reformen- es geht um das Vertrauen in die Demokratie. Deshalb ist es auch so wichtig, das Argument zurückzuweisen, bei der aktuellen Größe des Bundestages würden massiv Steuergelder „verschwendet“ werden. Denn wenn wir uns einig sind, dass wir alles tun müssen, um das Vertrauen in unsere Demokratie zu stärken, dann darf dieses Argument niemals zählen. Wir dürfen die Demokratie hier keinem Sparkurs aussetzen! Jeder einzelne Euro, der sinnvoll die Infrastruktur des Bundestages und seiner Abgeordneten investiert wird, ist es wert. Das gilt auch für Überhang- und Ausgleichsmandate. Es darf keine Austeritätspolitik beim Thema Wahlrechtsreform geben!
Der aktuelle Reformvorschlag von SPD, Grünen und FDP sieht vor, die Entscheidung, welche Wahlkreise ohne Abgeordneten dastehen sollen, nach dem Abstand an Erststimmen festzumachen. Die Wahlkreisgewinner*innen mit dem im Vergleich schlechtesten Ergebnissen sollen dann also kein Mandat mehr bekommen. Was zunächst logisch erscheint, birgt allerdings auch einige Probleme. Denn diese Regelung würde eine Art Elitenbildung im Bundestag begünstigen.
Bekommen nämlich nur noch die Wahlkreisgewinner*innen mit den besten Ergebnissen ein Bundestagsmandat, haben politische „Newcomer“, Kandidierende, die z.B. erstmals für ein Bundestagsmandat kandidieren, deutlich geringere Chancen, ein Mandat zu erhalten. Denn wer neu in der Politik ist, ist meistens unbekannt vor Ort. Erstmalig Kandidierende haben nicht die Möglichkeit, mit ihrer Wahlkreisarbeit der letzten 4 Jahre zu überzeugen und sich bekannt zu machen. Sie müssen meistens von Null anfangen. Wenn Newcomer es trotzdem schaffen, ihren Wahlkreis direkt zu gewinnen, dann meist knapp. Nach der geplanten Reform würden sie dann nicht in den Bundestag einziehen. Vor Allem für junge Menschen wäre das ein großes Problem und Hindernis.
Denn junge Menschen sind schlicht aufgrund ihres Alters und der Dauer, die sie sich ehrenamtlich politisch engagieren, meistens unbekannter als ein 50-jähriger Bewerber, der im „worst case“ auch schon 20 Jahre im Bundestag sitzt. Junge Menschen, die für den Bundestag kandidieren, haben es ohnehin unglaublich schwer, ein Direktmandat zu gewinnen. Da sie durch die geplante Reform einen Wahlkreis sogar mit großem Abstand direkt gewinnen müssten, um sicher in den Bundestag einzuziehen, entsteht hier eine fast unüberwindbare Hürde. Wenn diese Reform bereits bei der Wahl 2021 aktiv gewesen wäre, hätten es z.B. bekannte junge SPD-Abgeordnete wie Erik von Malottki, Anna Kassautzki oder Jakob Blankenburg nicht in den Bundestag geschafft. Auch die anderen betroffenen SPD-Abgeordneten sind überwiegend Jusos. Dabei war es doch gerade bei der letzten Wahl ein Erfolg, dass der Bundestag so jung und divers wie noch nie geworden war.
Wenn wir wollen, dass die Themen von jungen Menschen wieder vermehrt auf die Tagesordnung des politischen Betriebs im Bundestag kommen, dann muss auch ein angemessener Anteil der Abgeordneten selbst in dem Alter sein. Wir wollen kein Parlament mit einem Altersdurchschnitt von fast 50 Jahren! Wir wollen unsere Zukunft selbst in die Hand nehmen und für unsere Rechte kämpfen, für gute Bildung, faire Teilhabe und gleiche Chancen. Und das schaffen wir eben nur, indem wir jungen Menschen Mitsprache in der Politik ermöglichen, ganz besonders im Bundestag!
Wie eingangs gesagt ist es verständlich, das Problem des größer werdenden Bundestages anzugehen. Die zentrale Frage ist jedoch, ob die vermeintlichen Lösungen hierzu nicht eher mehr Probleme verursachen als lösen. Ein Vorschlag, der den Bundestag zwar deutlich verkleinern würde, unserer Demokratie jedoch langfristig ganz sicher schaden würde, ist nicht erstrebenswert und muss in aller Sachlichkeit kritisiert werden.
Problematisch wird es allerdings, wenn große Volksparteien wie die CDU/CSU die aktuelle Debatte nutzen, um parteipolitische Spielchen durchzuziehen. Wenn führende Unionspolitiker die geplante Reform dieser Tage als „organisierte Wahlfälschung“ bezeichnen und von der Errichtung eines „Schurkenstaates“ sprechen, dann ist das in aller Schärfe zurückzuweisen. Zur Erinnerung: Der einzige offizielle Vorschlag der Union während 16 Jahren Merkel-Regierung war die Einführung eines sogenannten „Grabenwahlrechts“, durch welche die Union 13% mehr Sitze bekommen hätte und alle anderen Parteien massiv an Sitzen verloren hätten. Derartige Äußerungen sind also scheinheilig und heuchlerisch. Wer nicht in der Lage ist, diese Debatte sachlich und ohne Parteipolitik zu führen, hat nichts in Verantwortung zu suchen.
Der Reformvorschlag der Ampelfraktionen, er ist nicht gut. Er macht Deutschland aber nicht zum Schurkenstaat.